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Castell

4 von 6 Punkten von Aaron Vanderbeek

Schwerkraft (Redaktion: Dustin Schwartz, Lisette Bleckmann, Carsten Reuter, Lizenz: Renegade Game Studios)

Illustration: Ossi Hiekkala

ca. 60 €

2 bis 4 SpielerInnen (am besten: 3 SpielerInnen)

Schwierigkeit schwer

Jahrgang 2019

Wenn ich dem Spiel Glauben schenken darf, ist die menschliche Pyramide eine Art katalanischer Volkssport. Auf einer Reihe von Festen treffen sich Gruppen von Castellers und klettern auf die Schultern ihrer Unterleute. Die kräftigsten Leute stehen unten. Und die leichten Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen oben auf die Spitze. Wenn diese möglichst hoch ist, ist das ziemlich beeindruckend.

Genau das geschieht in diesem Spiel. Wir reisen durch das aufmüpfige Katalonien und nehmen uns in den verschiedenen Provinzen pro Runde zwei Plättchen, auf denen je ein Casteller abgebildet ist,  der zwischen 1 und 10 stark sein kann. Daraus puzzeln wir unsere Pyramide. Unten befinden sich die Personen mit den größten Zahlen, oben die mit den niedrigsten. Außerdem ist wichtig, dass auf einer Ebene nur Castellers mit derselben Zahl gestellt werden. Denn sonst wird das Konstrukt wackelig, weil die Plättchen unterschiedlich groß sind.

Pyramidenförmig wird jede Ebene des maximal drei Personen breiten Castells schlanker. 3-2-1: Mit den Grundregeln des Pyramidenbaus kommen wir nicht weit. Denn die Mindesthöhe beträgt vier Ebenen, wenn wir an einem Festival teilnehmen und uns ab der Runde drei mit anderen Teams messen wollen. Deshalb müssen wir schauen, in den Provinzen Spezialfertigkeiten zu erwerben. Besonders beliebt ist die „Balance“. Dann dürfen übereinander stehende Ebenen dieselbe Personenzahl haben.

Durch die Kombination verschiedener Fähigkeiten wird Castell zu einer schön kniffligen Herausforderung, die sich als attraktive und äußerste originelle Spielidee. Zugegeben: Man muss das Knobeln mögen. Die Anforderungen sind nie übermäßig groß, jedenfalls fühlt sich nicht wie bei einem Intelligenztest. Ohne Nachdenken geht es aber auch nicht. Da bei allen Spielern gleichzeitig die Köpfe rauchen, sollte die gefühlte Downtime nicht zu groß werden.

Die Grundstruktur des mit dem Castellbau kombinierten Brettspiels ist gut durchdacht. Auf der einen Seite gibt es einen angemessenen Glücksfaktor: nach und nach werden aus dem überdimensionierten Stoffsack neue Castellersplättchen unterschiedlicher Größe gezogen und zufällig in die Regionen verteilt. Auf der anderen Seite können wir die Reise unserer Spielfigur durch die katalanischen Regionen ganz gut vorausplanen. Welche Fertigkeit man wo aufbessern kann, zeigt eine Uhr, die pro Runde einen Abschnitt weitergedreht wird. Der Rundenanzeiger ist ein Festivalkalender. So weiß ich im Vorhinein wo meine Figur stehen muss, um in den Runden drei bis zehn an bestimmten Orten an Wettkämpfen teilnehmen kann und meine Wege entsprechend vorbereiten. In jeder Partie wechselnd gibt es Mindestanforderungen, welche Castellers meiner Truppe angehören sollen.

Auch wichtig bei der Planung seines persönlichen Auftrittskalenders: Ein Blick auf die Konkurrenz. Was aber gar nicht einfach ist, weil wir mit unseren eigenen Leuten schon genug beschäftigt sind. Am ehesten gelingt das in der Dreier-Partie, während ich mich in der Vier-Personen-Runde überfordert fühle, alle Auftritte durchzurechnen. Zu zweit funktioniert Castell nicht wirklich. Da muss man dann auf der Verlagswebsite bei den nachgebesserten Regeln nachschauen.

Zwei Casteller nehmen, einen Schritt laufen, eine Fertigkeit trainieren – das ist ein stimmiges Spielkonzept. Fazit: Castell ist soweit ein super Spiel.  Soweit? Leider waren das noch nicht alle Regeln. In bis zu sieben Runden darf man noch eine Spezialaktion machen und dabei unter anderem Extraauftritte in bestimmten Regionen abwickeln, bei der es um bestimmte Pyramidenformen oder um komplizierte Fähigkeitskombinationen geht. Außerdem gibt es Regelungen, wie man dabei kleine Marker abgibt und wiederum bekommt, um am Ende nachzuweisen, an möglichst vielen Orten gewesen zu sein. Spätestens da landet man in der Schlussabrechnung in einem ziemlich überflüssigen Punktesalat. Wie schade. Ich behaupte gar nicht, dass das nicht funktioniert. Mechanisch ist alles völlig in Ordnung, aber das ist nicht die Kunst, die ein Spiel besonders werden lässt. Das gelingt vielen Autoren und Redaktionen. Aber ein Spiel soll nicht nur funktionieren. Sondern die wahre Kunst ist es, den Kern des Spiels so freilegen und so in das Zentrum stellen, dass ein unverstellter Blick möglich ist. Das wurde hier verpasst. Die Besonderheit von Castell wird durch zu viele Regulierungen getrübt, die sich als Ballast erweisen.

Eine ausführliche Besprechung von Castell finden Sie im Magazin spielbox 4/2019.


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